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Medizin

Präzisionsonkologie: Sprengt der medizinische Fortschritt das Gesundheitssystem?

Anne Krampe-Scheidler

Präzisionsonkologie: Sprengt der medizinische Fortschritt das Gesundheitssystem?
© Sved Oliver - stock.adobe.com
Die Präzisionsonkologie eignet sich besonders gut als Zukunftsmodell für eine integrierte Versorgung. Anlässlich des Hauptstadtkongresses (HSK) in Berlin wurden Chancen und Herausforderungen im Dialog zwischen Medizin und Pharmaindustrie diskutiert.
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Lungen- oder Gallenwegskarzinom: mehrere Therapielinien möglich

Schon heute ist die Präzisionsonkologie eine Erfolgsstory. Mit zielgerichteten und Immuntherapien gelingt es immer besser, das Überleben von Krebspatient:innen zu verbessern. Bei Indikationen wie dem Lungen- oder Gallenwegskarzinom herrscht nach Jahrzehnten des therapeutischen Nihilismus Aufbruchsstimmung. Wo früher nach der ersten Therapielinie Schluss war, schließt sich heute eine zweite, dritte und vierte Linie an. Zunehmend wandern die neuen Substanzen von fortgeschrittenen in frühe Erkrankungsstadien, wo sie ihr Potenzial noch besser entfalten können. Ist unser Gesundheitssystem mit diesen Fortschritten überfordert?

Wie bleibt Präzisionsonkologie bezahlbar?

„Präzisionsonkologie bietet unglaubliche Chancen“, ist Dr. Benedikt Westphalen, Ärztlicher Leiter der Präzisionsonkologie am Comprehensive Cancer Center der LMU München, überzeugt. „Als Behandler möchte ich für meine Patient:innen die besten Medikamente einsetzen können“, betonte er. „Wie wir das in die Versorgung überführen, bezahlbar halten und auch logistisch abbilden, das sind die großen Herausforderungen der kommenden Jahre.“

Präzisionsonkologie noch nicht in der Regelversorgung angekommen

Eine umfassende molekulare Diagnostik eröffnet auch heute schon Patient:innen mit sehr seltenen oder schwer zu behandelnden Krebserkrankungen den Zugang zu innovativen Therapien – theoretisch. Denn das Gesundheitssystem sei auf den medizinischen Wandel nur bedingt eingestellt und der Fortschritt komme in der Fläche nicht an, so Westphalen. „Wenn wir die Präzisionsonkologie in der breiten Versorgung etablieren wollen, muss die erweiterte molekulare Diagnostik ein integraler Bestandteil der Behandlung sein – von der Erstdiagnose bis hin zum regelmäßigen Therapiemonitoring“, forderte er.
 
 

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Erschienen am 31.05.2023Ergebnisse einer Studie demonstrieren das Potenzial des genetischen Profilings von Gallenwegs-Karzinomen. Lesen Sie hier mehr dazu!

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© SciePro - stock.adobe.com

Interdisziplinäre und transsektorale Zusammenarbeit in der Onkologie

Der internistische Onkologe verglich das Gesundheitssystem mit einem Spielfeld, auf dem sich die Patient:innen „flüssig bewegen“ können sollten. Daher sei es notwendig, alle Akteure – vom Hausarzt bis zu den Expert:innen am Zentrum, Krankenkassen und Industrie – miteinander zu vernetzen und eine echte integrierte Versorgung anzubieten. Er regte an, Anreize zu schaffen, um über Sektorengrenzen hinweg zu denken. „Patient:innen, die aus der niedergelassenen Praxis in ein Zentrum überwiesen werden, sind nicht verloren“, betonte er. Umgekehrt müsse eine adjuvante Chemotherapie beim Kolonkarzinom nicht notwendigerweise im universitären Zentrum erfolgen. Der Einsatz virtueller Tumorboards oder dezentrale Diagnostik, beispielsweise mittels Liquid Biopsy, könnte bei der transsektoralen Vernetzung unterstützen.

Umbrella-, Basketstudien oder Plattform-Studien?

„Für die Pharmaindustrie ist die Zeit der großen Blockbuster vorbei“, konstatierte Ralf Zerbes von Roche Pharma. Immer kleinere Populationen machten es schwer, randomisierte klinische Studien (RCT) durchzuführen. Er verdeutlichte dies am Beispiel der NTRK-Fusion, die bei 1% der Fälle mit einem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom vorliegt. „Mit einer RCT hätte es 105 Jahre gedauert, bis genügend Patient:innen rekrutiert worden wären“, sagte er.
Um trotzdem Studien „in realistischen Zeitfenstern durchzuführen und vernünftige Evidenzen zu generieren“, gebe es bereits Konzepte wie Umbrella-, Basketstudien oder Plattform-Studien. Auch über Endpunkte müsse neu diskutiert werden. „Das Überleben wird durch neue Therapien so weit nach hinten geschoben, dass es sehr lange dauert, bis die Daten vorliegen.“ In der Zulassungsstudie von Alectinib, einem ALK-Inhibitor beim NSCLC, sei der Median nach 9 Jahren immer noch nicht erreicht, berichtete Zerbes.

Gefährdet das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz die Versorgung?

Gefährdet werde die Versorgung auch durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. „Wir haben Innovationen, die nicht adäquat honoriert werden“, so Zerbes. Er kritisierte insbesondere den pauschalen Preisabschlag von 20% bei Kombinationen – einer Therapiestrategie, mit der mehrere onkogene Signalwege gleichzeitig adressiert werden. Der Abschlag wird fällig, wenn kein beträchtlicher oder erheblicher Zusatznutzen beschieden wird – häufig aus formalen Gründen, wie der Medical Manager betonte. „Es ist ein Verlustgeschäft, obwohl wir ein zweites Medikament in die Therapie hineinbringen“, sagte Zerbes. Der vor 12 Jahren initiierte AMNOG-Prozess werde der „deutlich kleinteiligeren und personalisierten Medizin“ nicht mehr gerecht, so seine Einschätzung. Er verwies auf pharmazeutische Unternehmen, die Medikamente in Deutschland nicht mehr auf den Markt bringen, „weil es sich wirtschaftlich schlicht und ergreifend nicht lohnt“.

Quelle: Präzisionsonkologie: Fortschritt – für alle, wenige, oder doch für niemanden? Pressedinner anlässlich des Hauptstadtkongresses 2023, 15.06.2023, Berlin; Veranstalter: Roche


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